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Gaede: Rede zum Tag der Demokratie

Kommunale Mitteilung - meinWiesental.de

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Lutz,
meine Damen und Herren,

Menschen, die auf lustigen Feiern plötzlich über ernste Themen reden, über Altersarmut etwa oder über das Verhältnis von Angela Merkel zu Horst Seehofer, nennt man party pooper, Spaßbremsen auf Deutsch.

Menschen, die ein fröhlich gestimmtes Publikum, dem der Duft von Bratwurst und Wein schon in die Nase weht ((oder: die ein durchnässtes Publikum, dem nach Flucht in die Festzelte zumute ist)), mit einer Rede behelligen sollen, teilen das Schicksal des party poopers. Sie werden nicht unbedingt gemocht.

Aber halten wir eine Weile gemeinsam durch, denn immerhin gedenken wir heute eines Revolutionärs: Und zu Revolutionen gehört nun mal, dass erst die Moral kommt – und dann das Essen!

Und da „Menschenrechte und Demokratie“ unser Thema sind, und zu beidem das Recht auf Gedanken- und Redefreiheit gehört, nehme ich mir jetzt einfach das Recht auf beides heraus: auf Gedanken und eine Rede.

Meine Damen und Herren, kein Tag der Demokratie in Lörrach ohne Erinnerung an jenen wunderbaren Querdenker und Kämpfer und Vordenker und Visionär Gustav Karl Johann Christian von Struve, der so viel aufs Spiel gesetzt hat, um seiner Überzeugung zu folgen: seinen Adelstitel legte er ab, weil der seiner Vorstellung von der Gleichheit der Menschen widersprach. Seine Konfession wechselte er, weil sie ihm zu eng erschien und er konfessionelle Toleranz verfocht. Mit seiner Familie überwarf er sich, um eine früh frauenbewegte Liebste zu heiraten. Die Republik rief er aus – und von diesem Balkon hinter mir „Wohlstand, Bildung, Freiheit für alle“. Aber das wissen sie ja als stolze Lörracher. Auch, dass er 1849 scheiterte, 1851 in die USA emigrierte, dort später Abraham Lincoln unterstützte, um schließlich, nach seiner Rückkehr nach Deutschland und der Lektüre von Rousseaus „Émile“ auch noch zu einem Mitbegründer der vegetarischen Bewegung zu werden. Als hätte er auch noch die Massentierhaltung vorhergesehen und die bedauernswerte Tendenz zum allgemeinen Übergewicht.

Was für ein Mann! Er hätte gewiss nicht vor dem Anstiften zur Revolution eine Bahnsteigkarte gelöst; er war kein Salon-Sozialist; und heute wäre er wahrscheinlich auch Sarah Wagenknecht viel zu aufmüpfig. Vielleicht ein Barrikadenbauer bei Stuttgart 21. Vielleicht der Kapitän auf einem Rettungsschiff im Mittelmeer. Oder würde in einer Strafvollzugsanstalt wenigstens den Lesezirkel leiten.

In jedem Fall hat Gustav Struve der Menscheit etwas hinterlassen, was als Idee eine unglaubliche Karriere machen sollte – nur leider in der Praxis für Abermillionen Menschen noch nicht eingelöst ist: die universale Idee von den Menschenrechten. Was Struve in den „Grundrechten des Deutschen Volkes“ 1848 proklamierte – etwa die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freiheit der Meinungen, die Pressefreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Freiheit der Lehre – das hat sich hundert Jahre später, mitunter fast wörtlich, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen wiedergefunden – in einer zunächst von 48 Ländern in Paris unterschriebenen Charta, ergänzt um fundamentale Rechte wie das Recht auf Leben und das Verbot der Sklaverei, und um Sozialrechte wie das Recht auf Arbeit, auf Nahrung, auf Bildung.

Das alles mag so selbstverständlich klingen in unseren Ohren – und ist es doch nicht. Jedenfalls ist es das nicht jenseits unserer wohlklimatisierten Zonen und manchmal sogar in unserer Nähe noch nicht. In mehr als 50 Ländern, hat der UN-Hochkommissar das Jahr 2017 bilanziert, werden die Menschenrechte bedroht oder gar brutal missachtet. In der syrischen Apokalypse, beim Völkermord an den Rohingya in Myanmar, bei der Bombardierung eines Schulbusses im Jemen. In den Flüchtlingslagern von Libyen. In El Salvador, wo Frauen nach einer Abtreibung zu 40 Jahren Haft verurteilt werden. An der US-Grenze zu Mexiko. In der Türkei und in Ungarn, wo es keine Pressefreiheit mehr gibt oder bald nicht mehr geben wird.

Schätzen wir, was wir haben? Dass aus unserem Land, obwohl reich, nicht Hunderttausende vor dem Hunger fliehen müssen – wie zur Zeit aus Venezuela? Dass bei uns keine blutigen Kämpfe nach Wahlen ausbrechen, weil sich die Kandidaten gegenseitig der Fälschung bezichtigen? Dass in unserem Land kein Journalist sterben muss, weil er Machenschaften der Mächtigen aufdeckt – wie in der Slowakei oder auf Malta? Dass in unserem Land die Richter unabhängig sind? Dass in unserem Land nicht gefoltert wird? Dass in unserem Land nicht die Todesstrafe herrscht, was übrigens ebenfalls schon Gustav Struve einst gefordert hat?

Verteidigen wir all das Selbstverständliche – oder vielleicht auch nur vermeintlich Selbstverständliche – gegen den Überdruss, gegen das Gelangtweiltsein, gegen die Bräsigkeit, gegen die Ego-Trips der Rücksichtslosen, gegen das grassierende Misstrauen gegen „die da oben“, gegen das Verächtlichmachen jener, die politische Funktionen übernehmen; gegen jene, die soziales Engagement arrogant als „Gutmenschentum“ verunglimpfen? Und vor allem gegen jene, die unsere Erinnerungskultur an die düsterten Kapitel deutscher Geschichte „um 180 Grad“ drehen wollen? Und machen wir uns bewusst, dass einst auch Millionen deutsche Armutsflüchtlinge, nicht einmal politisch verfolgte, auf Schiffe stiegen, um andernorts, jenseits des Meeres, ihr Glück zu suchen?

Es ist eine so quälend und lang erkämpfte und fragile Geschichte, die Geschichte der Demokratie und der Menschenrechte, dass wir uns nicht ausruhen, sondern sie kennen sollten. Kennen sollten, um sie noch einmal wertschätzen zu lernen.

Und ich möchte Ihnen das, weil ich hier auch als ehrenamtliches Vorstandsmitglied von UNICEF eingeladen worden bin, an einem Beispiel illustrieren, das manche vielleicht als ein Unterkapitel der allgemeinen Menschenrechte empfinden, obwohl es vielleicht sogar noch fundamentaler ist: an der UN-Konvention zu den Rechten des Kindes. Sie wurde 41 Jahre nach der UN-Erklärung der Menschenrechte, am 20. November 1989, ebenfalls in einer Hauptversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Und auch sie hatte Vordenker, andere als Gustav Struve, aber aufopferungsvolle Menschen mit einem ähnlich glühenden Verlangen, diese unsere Welt besser zu machen.

Einer dieser Menschen: Dr. Janusz Korczak.

Nicht Mehl und Grütze erbat er sich, sondern Blumen. Blumen für die 200 Kinder, die er in seinem Waisenhaus im Warschauer Ghetto behütete. Es war der Juni 1942. An Hunger, an Typhus starben die Menschen im Ghetto an jedem dieser schrecklichen Tage im dritten Jahr der deutschen Besatzung; sie starben in Massen. Und wahrscheinlich hatten auch die Kinder in Dr. Janusz Korczaks Heim nur wenig, was sie am Leben hielt. Aber „heiter, kindlich, sorglos“ sollten sie doch sein, wünschte sich Korczak, „sie haben ein Recht auf den heutigen Tag“.

Als sie dann in den Zug steigen sollten, der sie in das Vernichtungslager Treblinka bringen sollte, in den Tod, verließ Korczak sie nicht. Er wollte es ihnen leichter machen. Aufs Land würden sie fahren, erzählte er ihnen wohl, auf Blumenwiesen. In Wälder, wo es Beeren und Pilze geben würde. Und so traten die 200 Waisenkinder paarweise zum Abmarsch an, fröhlich; ein zwölfjähriger Junge an der Spitze des Zuges spielte auf seiner Geige, so schrieb es ein Zeuge auf. Die Kinder sangen, die zwei Kleinsten trug Korczak auf dem Arm. Und vielleicht tat er das auch, als sie in die Gaskammer mussten. Der Tag ist nicht bekannt, an dem es geschah.

So starb der polnische Kinderarzt jüdischen Glaubens, der Reformpädagoge, der Schriftsteller Janucz Korczak, eigentlich Henryk Goldszmit, der die Kinder liebte. Dieses „Proletariat auf kleinen Füßen“, das ihm allgemein rechtlos und ausgebeutet vorkam. Der mahnte, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, so klein sie auch sein mochten. Denn: „Kinder werden nicht zu Menschen, sie sind es bereits.“ Und der deshalb forderte, dass sie Rechte haben sollten. Das Recht, ernstgenommen und zu nichts verpflichtet zu werden, was ihre Kraft und ihr Alter überstiege. Das Recht auf Eigenart und Eigentum. Das Recht, vor Armut und Missbrauch, Krankheit und Gewalt geschützt zu werden. In einer „Magna Charta Libertatis“, einer Verfassung für Kinder, sollte all dies festgelegt werden. Schon 1919 hatte Korczak das angestrebt. „Vielleicht ist das einmal, nach 50 Jahren, irgendjemandem von Nutzen“ – so begann, geschrieben im August 1942, die letzte Tagebuchaufzeichnung von Janucz Korczak, der bereit war, mit seinen Kindern einen letzten Weg zu gehen. Den in die Gaskammer. Denn, so schrieb er: „Nicht mich will ich retten, sondern meine Idee.“

Sie wurde gerettet. Und es war gewiss ein schöner Moment, als am 20. November 1989 die große Schauspielerin Audrey Hepburn ans Rednerpult der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York trat, um jenen Völkerrechtsvertrag zu verlesen, mit dem 193 Staaten die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet hatten. Noch zwar sollte es fast ein weiteres Jahr dauern, bis sie in Kraft trat. Noch immer ist sie von einen wenigen Staaten nicht ratifiziert, und ein Land wie Deutschland unterschrieb zunächst nur unter Vorbehalten, die erst 2010, auch auf Druck von UNICEF, zurückgenommen wurden. Auch Zusatzprotokolle mussten hinzukommen: zum Mindestalter für die Teilnahme junger Soldaten an Kampfhandlungen, 18 Jahre, schlimm genug; zum Verbot von Kinderhandel, Kinderprostitution und –pornographie.

Der Kinderrechtskonvention sind mehr Staaten beigetreten als sämtlichen anderen UN-Konventionen bisher.

Aber in der Dunkelheit dahinter: Alles das, was noch immer erbärmlich ist. Noch ist jedes vierte Kind auf der Welt chronisch mangelernährt. Noch gibt es für 57 Millionen Kinder kein Klassenzimmer. Noch arbeiten 168 Millionen Kinder unter ausbeuterischen Bedingungen in Kohlegruben, Minen, Fabriken oder, vor allem Mädchen, entrechtet in Privathaushalten. Noch sind 30 Prozent der Mädchen unter 18 Jahren, manche gerade sieben, in einigen Entwicklungsländern in erzwungene Ehen eingesperrt. Noch ließe sich diese Liste der Schande verlängern. Um jene Kinder und Jugendlichen etwa, hunderttausende sind es schätzungsweise, die in Haftanstalten einsitzen, sehr häufig ohne Gerichtsurteil. Um jene Mädchen in Afghanistan, die nicht mehr zur Schule gehen dürfen. Und so zwingt alles das auch die Menschen, die sich für UNICEF engagieren, in die „graue Strickjacke der Sorge“, wie es ein Zyniker einmal schrieb, ohne zu merken, wie billig das ist.

Denn ja, es taugt halt nicht für Fröhlichkeit, heute davon zu hören, dass 235 000 Kinder unter fünf Jahren im Südsudan wegen akuter Mangelernährung dringend behandelt werden müssen und die Nothelfer von UNICEF und Welternährungsprogramm dort von Zuständen berichten, wie sie sie „noch nie gesehen haben“. Und morgen davon lesen zu müssen, dass weltweit so viele Menschen auf der Flucht sind, über 60 Millionen, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die Multiplikation der Krisenherde verlangt nach reichlich vielen guten Menschen, die sich nicht darum scheren, wie grau es ist, in der Zentralafrikanischen Republik eine Schule wieder aufzubauen oder in einem Auffanglager Milchrationen zu verteilen.

Und in Deutschland? Zwischen 2000 und 2010 hat fast jedes zehnte Kinder hier erlitten, was eine „langfristige Armutserfahrung“ genannt wird. Nach einer OECD-Erhebung zur Kinderarmut unter 29 Staaten liegt das reiche Deutschland nur auf einem Mittelplatz. Aber wenigstens der Krieg, die Gewalt sind doch fern in der Kinderwelt hierzulande – oder nicht? Wohl nicht ganz. Sonst hätten bei dem vor einiger Zeit veröffentlichten Kinderwerte-Monitor, einer repräsentativen Erhebung unter mehr als 1000 Jungen und Mädchen zwischen sechs und 14 Jahren, nicht 82 Prozent gesagt, das Recht, ohne Gewalt aufzuwachsen, sei ihnen das Wichtigste. Und zugleich 35 Prozent der Befragten angegeben, dies sei wohl jenes Recht, gegen das am häufigsten verstoßen werde. Dass Kinder in Deutschland „früh lernen, die Welt jenseits ihres persönlichen Erfahrungsraumes und nationaler Grenzen zu begreifen“, schließen die Verfasser der Studie daraus. Und dass nicht zuletzt der omnipräsente Krisendiskurs in den Medien auch bei Kindern in einem friedlichen Land in Mitteleuropa dazu führt, in ihrem Angstrepertoire viel mehr zu haben als Elternverlust, Dunkelheit, Spinnen oder das Halbjahreszeugnis. Syrien scheint auch in die Seele von Marie kriechen zu können, ein Nachhall der Detonationen in Afghanistan selbst bis an Johanns Ohren.

Es wäre ein Traum, wenn sich auch Marie und Johann oder Kevin und Melanie und Ali und Ayse bald wieder höchstens vor Spinnen oder Dunkelheit fürchten müssten. Und der noch viel größere: Wenn jegliche Gewalt gegen Kinder auch in jenen Ländern verboten würde, in denen 95 Prozent aller Mädchen und Jungen heute leben. Das Recht der Kinder, in Würde, gesund, wohlgenährt, gewaltfrei aufzuwachsen, zur Schule gehen zu dürfen, im Krieg und auf der Flucht beschützt zu werden und, wenn sie behindert sind, besondere Fürsorge zu erhalten, ist keine Frage karitativer Gönnerhaftigkeit. Es ist völkerrechtliche Verpflichtung, vor 25 Jahren beschlossen.

Fehlt, dass sie eingelöst wird.

Es gibt viel zu tun. Immer noch. Und immer wieder. Lassen Sie uns nicht verzweifeln. Bleiben wir wachsam und aktiv. Lassen Sie uns nicht verschleudern, was andere erkämpft haben. Demokratie und Menschenrechte sind weder ein bequemes Polster. Noch etwas, das uns nichts angeht, weil wir es ja schon haben. Noch etwas, das sich delegieren ließe. Wir selber müssen sie mit Leben erfüllen.

In diesem Sinne und mit sehr herzlichem Dank für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit!

© Peter-Matthias Gaede, im August 2018

Eine Mitteilung der Stadt Lörrach

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